Wettstreit der Gefühle

Wem soll man trauen, den süßen Verlockungen der Liebe oder doch lieber der eifernden Tugend? Der Kieler Bassist Julian Pages, Judith-Maria Becker (Barockcello) und Jörn Boysen (Cembalo) gingen am Sonntag in der Pauluskirche dieser das Barock umtreibenden Frage nach und spiegelten den Wettstreit der so unterschiedlichen Musen im besten Sinne konzertant.

In Giovanni Legrenzis dem Konzert das Motto gebenden Amore e Virtù hatte Pages gleich zu Anfang Gelegenheit, konzertante, sprich wettstreitende Stimmcharaktere auf das Schlachtfeld der Gefühle zu schicken. Mit ausgeprägter Agogik lotet der Bass, der besonders in der Tiefe erstaunliches Volumen entwickelt, ohne dabei den Verführungen übersteuerter Ariosi zu erliegen, den Kosmos der Affekte in seinen Extremen aus. Elegisch fließende Töne und aggressiv explodierendes Konsonanten-Staccato, durch flinke Koloraturen aufgebaute Spannung und Entspannung weiter Phrasen mit langem Atem modellieren in seinem stets auf das Wort zentrierten Gesang die diametralen Gefühlscharaktere mit bildhauerischer Prägnanz.

Auch Jörn Boysens Cembalospiel ist den Affekten verpflichtet. Durch seine Anschlagstechnik, den ausgefeilten Wechsel zwischen Legato und Portato sowie zwischen den Manualen, gelingt ihm das auf seinem Instrument eigentlich Unmögliche, nämlich den Eindruck verschiedener dynamischer Werte zu erzeugen, in William Byrds Variationen über das Chanson Qui passe und noch eindrucksvoller mit den rollenden Bässen der Allemande La Laborde von Antoine Forqueray. Judith-Maria Becker spielt der Diskant ihres Barockcellos in J. S. Bachs Solo-Suite Nr. 2 (BWV 1008) bisweilen schrille Obertonstreiche. Dennoch gelingt auch ihr eine überzeugende Charakterstudie divergierender Gefühle und rundet das Konzert zu einem Kleinod barocker Affekt-Kunst, nicht zuletzt durch die konsequente historische Aufführungspraxis.

Jörg Meyer

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Kieler Nachrichten vom 14.08.2001